Intersexualität – das dritte Geschlecht, Gespräch mit 123recht.net v. 20.12.2017

Personenstandsregister muss dritte Bezeichnung außer „männlich“ oder „weiblich“ zulassen

In einem bemerkenswerten Urteil hat das Bundesverfassungericht sich für die Einführung eines dritten Geschlechts im Geburtenregister ausgesprochen. Der Ball liegt nun beim Gesetzgeber. Was bedeutet das Urteil für betroffene Menschen? Rechtsanwalt und Fachanwalt für Verwaltungsrecht Robert Hotstegs beleuchtet für 123recht.net die Auswirkungen der Neuerungen.
Regelungen des Personenstandsgesetzes verfassungswidrig

123recht.net: Herr Hotstegs, was hat das Bundesverfassungsgericht entschieden?

Rechtsanwalt Hotstegs: Das Bundesverfassungsgericht hatte über den konkreten Fall einer Person zu entscheiden, die nach ihrem Chromosomensatz weder männlich noch weiblich war. Für diese Person war im Personenstandsregister das Geschlecht „weiblich“ eingetragen. Sie hat beantragt, dieser Eintrag sollte gestrichen und durch die Bezeichnung „inter/divers“ ersetzt werden. Das haben Standesamt und Gerichte einhellig abgelehnt. Noch der Bundesgerichtshof hatte keine verfassungsrechtlichen Bedenken gesehen. Anders nun der 1. Senat. Er hat die Regelungen des Personenstandsgesetzes für verfassungswidrig erklärt, sofern sie keine Bezeichnung außer „männlich“ oder „weiblich“ zulassen.

Selbstbestimmte Entwicklung und Wahrung der Persönlichkeit gefährdet

123recht.net: Es war doch vorher schon möglich, im Personenregistern das Geschlecht nicht einzutragen. Warum ist der Beschluss dennoch so wichtig?

Rechtsanwalt Hotstegs: Weil es momentan einen Unterschied macht, ob für eine Person ein Geschlecht eingetragen ist oder nicht. Denn der Gesetzgeber hat vorgegeben, dass die Wahl und Angabe eines Geschlechts der Regelfall ist. Die Nichteintragung ist die Ausnahme. Das Gericht hat hieraus abgeleitet, dass der Eintrag identitätsstiftende Wirkung hat. Verbietet man nun Personen, ihr Geschlecht positiv eintragen zu lassen, sei „die selbstbestimmte Entwicklung und Wahrung der Persönlichkeit dieser Person spezifisch gefährdet“.

Zusätzliche Bezeichnungen können Diskriminierung von Trans- und Intersexuellen beseitigen

123recht.net: Wäre es nicht sinnvoll, das Geschlecht generell abzuschaffen?

Rechtsanwalt Hotstegs: Die Biologie wäre wahrscheinlich dagegen. Aber im rechtlichen Kontext wäre das natürlich denkbar. Das Bundesverfassungsgericht hat auf diese Möglichkeit ausdrücklich hingewiesen. Das Personenstandsrecht könnte demnach eine oder mehrere Bezeichnungen für Varianten zulassen, es könnte aber eben auch komplett darauf verzichten. Letzteres dürfte praktisch aber doch wohl kaum in Betracht kommen. Denn dann dürfte sich die Frage stellen, ob man hiermit nicht auch die identitätsstiftende Wirkung für Männer oder Frauen beeinträchtigt. Ich meine, es kommt am ehesten in Betracht, weitere Bezeichnungen zuzulassen. Hier wird niemandem etwas weggenommen, der sich als Mann oder Frau bezeichnen kann. Aber es würden viele Fälle der Diskriminierung Trans- und Intersexueller beseitigt.

Intersexuelle haben häufig einen ungewöhnlichen Chromosomensatz

123recht.net: Was sind die Merkmale von Menschen mit einer Intersexualität?

Rechtsanwalt Hotstegs: Der konkrete Fall zeigt, dass hier zwei Blickwinkel im Mittelpunkt stehen: einerseits die rein biologische, genetische Veranlagung. Im konkreten Fall war die Person mit einem ungewöhnlichen Chromosomensatz ausgestattet. Es handelte sich um das so genannte Turner-Syndrom mit einem X-Chromosom und einem fehlenden zweiten Gonosom. Aber auch andere Chromosomensätze weichen vom klassischen binären System männlich/weiblich ab, auch manche hormonelle Abweichungen werden als Intersexualität erfasst.

Hinzu kommt, dass sich die jeweilige Person auch einem anderen Geschlecht zuordnet oder zuordnen lassen möchte. Es kommt also wohl nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts durchaus in Betracht, dass zwar biologisch eine Abweichung vorliegt, ein Eintrag aber beispielsweise als „männlich“ vorgenommen wird, wenn die Person auch „männlich“ sein will. Genauso sei es aber, wenn die Person eben weder männlich, noch weiblich sein will. Neben die rein biologisch nachweisbare, objektive Sichtweise, tritt daher auch ein subjektives Element.

123recht.net: Wie viele Menschen in Deutschland leben als Intersexuelle?

Rechtsanwalt Hotstegs: Mir sind keine konkreten Zahlen bekannt. Es gibt Schätzungen, wonach etwa 0,1 bis 0,2 Prozent der Bevölkerung betroffen sein könnten. Manche wissen um ihre Intersexualität, manche auch nicht.

Beschluss gilt nicht für Transsexuelle

123recht.net: Hat der Beschluss auch Auswirkungen für Menschen, die sich im falschen Körper fühlen?

Rechtsanwalt Hotstegs: Nein, bislang nicht. Denn es betrifft ausschließlich Personen, die auch biologische Varianten aufweisen. Aber natürlich kann der Gesetzgeber nun auch eine Regelung schaffen, die Transsexuellen ebenfalls weitere Optionen zur Verfügung stellen. Das halte ich nicht für ausgeschlossen.

123recht.net: Müssen sich Intersexuelle nun für ein Geschlecht entscheiden oder gibt es andere Lösungsmöglichkeiten?

Rechtsanwalt Hotstegs: Der Ball liegt nun erst einmal beim Bundestag. Er muss sich dafür entscheiden, ob er eine Geschlechtsdefinition auch in Zukunft vorgeben oder eine oder mehrere Varianten ergänzen möchte. Wenn das Gesetz im Sinne der beschwerdeführenden Person – die übrigens auch konsequent vom Gericht weder als Mann noch als Frau bezeichnet wird – geändert würde, dann träte eine Bezeichnung wie „anders/divers“ hinzu. Eine intersexuelle Person könnte dann entweder diesen neuen Eintrag wählen oder aber auch auf die Angabe eines Geschlechts verzichten.

„Ein sehr weiter Weg. Verkehrt ist er aber nicht.“

123recht.net: Welche Folgen hat das Urteil? Angeführt wird ja von Aktivisten wie von Gegnern gerne reflexartig die Toilette. Müssten jetzt nicht alle geschlechtsspezifischen Gesetze und Regelungen auf den Prüfstand?

Rechtsanwalt Hotstegs: Natürlich lohnt sich ein genauer Blick auf die bestehenden Vorschriften. Nehmen wir aber die Toiletten, dann zeigt z.B. § 12 VStättVO, dass Damen- und Herrentoiletten gefordert werden. Es sind aber schon immer Abweichungen zulässig. Das können also z.B. Toiletten sein, die für alle freigegeben werden. Gerade einzelne Toiletten außerhalb von Sammelräumen bieten sich doch hierfür an. Aber auch andere Vorschriften, die momentan immer eine Festlegung auf Mann oder Frau fordern, gehören natürlich hinterfragt. Muss in jedem Formular ein Kreuzchen gemacht werden? Kann die Anrede vielleicht auch auf das Geschlecht verzichten? Verändert sich also vielleicht nicht nur das Gesetz, sondern auch die Behördensprache? Bis dahin wäre es ein sehr weiter Weg. Verkehrt ist er aber nicht.

123recht.net: Wird der neue Status im Ausweis vermerkt?

Rechtsanwalt Hotstegs: Schauen Sie doch einmal auf Ihren Ausweis. Ist dort das Geschlecht ausgewiesen? Im Personalausweis nicht. Im Reisepass nach europäischem Muster hat das Geschlecht aber einen festen Platz erhalten. Dort wäre dann auch der neue Status einzutragen. Das ist aber dann keine Besonderheit mehr, sondern gilt auch bislang, wenn gar kein Eintrag vorgenommen wurde. Dann bleibt auch das Feld im Reisepass entsprechend frei.

Intersexuelle können ohne Einschränkung heiraten

123recht.net: Hat das Urteil Auswirkungen auf die Eheschließung?

Rechtsanwalt Hotstegs: Nein. Denn § 1353 BGB stellt ja nur noch darauf ab, dass die Ehe „von zwei Personen verschiedenen oder gleichen Geschlechts auf Lebenszeit geschlossen“ wird. Auch eine intersexuelle Person wäre entweder gleichen oder verschiedenen Geschlechts wie der jeweilige Ehegatte. Es gibt zwar noch einzelne Vorschriften, die auch bezüglich der Ehe ausdrücklich Mann oder Frau erwähnen (Bsp. § 1355 Abs. 2 BGB). Das hat aber keine Bedeutung mehr, seitdem die sogenannte „Ehe für alle“ beschlossen wurde.

123recht.net: Müssen Arbeitgeber den neuen Status berücksichtigen und entsprechende Lösungen anbieten?

Rechtsanwalt Hotstegs: Ja und nein. Natürlich müssen Arbeitgeber Rücksicht nehmen. Aber nicht in einem völlig neuen Maße. Auch jetzt schon stellt sich ja beispielsweise die Frage, wie Personen ohne Geschlechtseintrag in einem Unternehmen behandelt werden. Die Menschen gibt es doch und sie leben und arbeiten. Die wohl kommende Gesetzesänderung wird es vielleicht nur ein wenig deutlicher machen. Das muss aber nicht zwingend neue oder gar aufwändige Lösungen bedeuten. Auch jetzt schon sind Reaktionen gefordert.

Das Antidiskriminierungsgesetz gilt auch für intersexuelle Menschen

123recht.net: Können sich Intersexuelle auf das Antidiskriminierungsgesetz berufen?

Rechtsanwalt Hotstegs: Natürlich. Denn das Bundesverfassungsgericht hat ausdrücklich festgestellt, dass auch die nicht eindeutig männlich oder weibliche Person – natürlich – ein Geschlecht im Sinne des Grundgesetzes und damit auch im Sinne der Antidiskriminierungsrichtlinie oder des AGG hat. Eine solche Berufung war auch bislang schon möglich, ist nur in vielen Fällen sicherlich unerhört geblieben. Das dürfte sich jetzt ändern. Dafür ist ein Paukenschlag aus dem Bundesverfassungsgericht sehr hilfreich.

123recht.net: Gibt es weitere rechtliche Auswirkungen dieser Entscheidung?

Rechtsanwalt Hotstegs: Das Bundesverfassungsgericht hat das Ausgangsverfahren an das Oberlandesgericht zurückverwiesen und gleichzeitig aber verfügt, dass das Verfahren ausgesetzt wird. Das soll auch – so heißt es ausdrücklich – für alle vergleichbaren Fälle und Verfahren gelten. Jeder Antrag auf Änderung in ein drittes oder anderes Geschlecht wird also zunächst ausgesetzt, bis der Bundestag eine Neuregelung getroffen hat. Dann sehen wir weiter.

123recht.net: Wir bedanken uns ganz herzlich für das informative Gespräch.

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