Nach einem Dienstvergehen ist die Gefahrenprognose für einen Beamten im Zweifel günstig.
Ein Beamter, der sich nach einem Pflichtverstoß in eine therapeutisch Behandlung begibt, hat die Gelegenheit – bei einer längeren Verfahrensdauer um so mehr – nachzuweisen, dass er sich künftig keine Fehltritte mehr erlauben wird. Das Verwaltungsgericht und auch das Berufungsgericht muss dazu jeweils Beweis erheben und im Zweifel die für den Beamten günstige Prognose annehmen.
Ein langes Verfahren und durchgeführte therapeutische Maßnahmen können also dazu führen, dass in jeder Tatsacheninstanz neue Prognosen berücksichtigt werden müssen.
Im Berufungsverfahren muss das Oberverwaltungsgericht eine Gesamtwürdigung vornehmen. Es muss sich insbesondere eine eigene Überzeugung vom Nachweis des Dienstvergehens und der bemessungsrelevanten Umstände bilden; ein Verweis auf die Beweiswürdigung des Verwaltungsgerichts genügt nicht.
An einer solchen vollständigen und umfassenden Gesamtwürdigung fehlt es, wenn das Berufungsgericht keine eigene umfassende und fundierte Prognoseentscheidung über das Verhalten des Beamten trifft. Ebenso muss es jede Pflichtverletzung für sich genommen einzeln würdigen und darf die verminderte Schuldfähigkeit hinsichtlich einer der Pflichtverletzungen nicht unter Heranziehung des Grundsatzes der Einheit des Dienstvergehens außer Acht lassen.
Das Bundesverwaltungsgericht stellt in seinem Beschluss vom 08.06.2017 u.a. klar:
5. Zu Recht rügt die Beschwerde hingegen den Umstand, dass das Berufungsgericht den Umstand der vom Beklagten durchgeführten Therapie nicht hinreichend gewürdigt hat, als Verstoß gegen die Pflicht zur fehlerfreien richterlichen Überzeugungsbildung (§ 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO). Dies führt zur Zurückverweisung des Rechtsstreits zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung durch das Berufungsgericht (§ 133 Abs. 6 VwGO).
Zu den nach § 13 Abs. 1 BDG und den entsprechenden Vorschriften der Landesdisziplinargesetze bemessungsrelevanten – und für den Beamten sprechenden – Umständen gehört auch der Umstand, dass sich der Beamte im Hinblick auf das Dienstvergehen einer Therapie unterzogen hat. Stärker noch als die Tatsache der Durchführung einer Therapie ist ihr Ergebnis zu berücksichtigen. Persönlichkeitsbild und Verhaltensprognose sind negativ, wenn eine im Hinblick auf das Dienstvergehen durchgeführte Therapie ohne Erfolg bleibt. Dagegen können nachträgliche Therapiemaßnahmen bei der Bemessung der Disziplinarmaßnahme mildernd berücksichtigt werden, wenn eine günstige Zukunftsprognose gestellt werden kann. Dabei können positive Entwicklungen in der Person des Beamten nach Vollendung des Dienstvergehens auch dazu führen, dass von der Höchstmaßnahme zugunsten einer milderen Maßnahme abgesehen werden muss. Hieraus ergibt sich die Notwendigkeit festzustellen, inwieweit eine vom Beamten im Hinblick auf sein Fehlverhalten begonnene Therapie Erfolg hat. Bei der Würdigung ist zu berücksichtigen, dass entlastende Umstände nach dem Grundsatz „in dubio pro reo“ schon dann beachtlich sind, wenn hinreichende tatsächliche Anhaltspunkte für ihr Vorliegen gegeben sind und eine weitere Sachverhaltsaufklärung nicht möglich ist (BVerwG, Urteile vom 27. November 2001 – 1 D 64.00 – juris Rn. 35 und vom 19. August 2010 – 2 C 13.10 – Buchholz 235.1 § 13 BDG Nr. 12 Rn. 29 f.; Beschluss vom 22. März 2016 – 2 B 43.15 – Buchholz 235.1 § 13 BDG Nr. 34 Rn. 7).
Diesen Anforderungen genügt das Berufungsurteil nicht. Zwar ist es nicht zu beanstanden, dass das Berufungsgericht hinsichtlich der Diebstähle eine verminderte oder fehlende Schuldfähigkeit verneint hat. Es hat allerdings hinsichtlich der exhibitionistischen Straftat die Voraussetzungen des § 21 StGB bejaht, ohne zugleich der Frage nachzugehen, ob die Therapie des Beklagten dauerhaften Erfolg verspricht. Zwar hat es seinen Versuch, die exhibitionistischen Handlungen in der Zwischenzeit durch Gesprächstherapie und stationäre Krankenhausaufenthalte aufzuarbeiten, zu seinen Gunsten gewertet. Angesichts der Schwere des einheitlichen Dienstvergehens könne ihn dies jedoch nicht wirksam entlasten. Es sei nichts Greifbares dafür erkennbar, dass weitere Diebstähle durch den Beklagten in Zukunft hinreichend sicher in Folge seiner zwischenzeitlichen Therapien ausgeschlossen seien (UA S. 26). Damit hat das Berufungsgericht jedoch die gebotene und auch nach seiner eigenen Ansicht bemessungsrelevante Prüfung, ob die Therapie bezüglich der exhibitionistischen Handlungen im Ergebnis erfolgreich gewesen ist, unterlassen. Der Erfolg oder Misserfolg der Therapiebemühungen hätte etwa durch eine entsprechende Nachfrage bei dem in der mündlichen Verhandlung vor dem Berufungsgericht befragten gerichtlichen Sachverständigen oder durch eine Befragung der behandelnden Ärztin in Erfahrung gebracht werden können (vgl. auch BVerwG, Urteil vom 19. August 2010 – 2 C 13.10 – Buchholz 235.1 § 13 BDG Nr. 12 Rn. 31).
Soweit das Berufungsgericht dabei auf den Grundsatz der Einheit des Dienstvergehens Bezug nimmt, verfehlt dies dessen Gehalt. Das Disziplinarrecht wird durch den Grundsatz der Einheit des Dienstvergehens geprägt. Soweit die Vorwürfe Gegenstand des Disziplinarverfahrens sind, ist das durch mehrere Pflichtenverstöße zutage getretene Fehlverhalten eines Beamten danach einheitlich zu würdigen. Dem liegt die Überlegung zugrunde, dass es im Disziplinarrecht nicht allein um die Feststellung und Maßregelung einzelner Verfehlungen geht, sondern vor allem um die dienstliche Bewertung des Gesamtverhaltens des Beamten, das im Dienstvergehen als der Summe der festgestellten Pflichtverletzungen seinen Ausdruck findet (vgl. BVerwG, Beschluss vom 11. Februar 2014 – 2 B 37.12 -juris Rn. 17 m.w.N.). Dieser Grundsatz ändert aber nichts daran, dass jede Pflichtverletzung für sich genommen vorliegen und gewürdigt werden muss. Es ist daher nicht zulässig, die verminderte Schuldfähigkeit hinsichtlich einer der Pflichtverletzungen unter Heranziehung des Grundsatzes der Einheit des Dienstvergehens außer Acht zu lassen. Genau dies hat das Berufungsgericht aber getan (UA S. 25).
Damit wendet das Berufungsgericht zugleich den Zweifelssatz in rechtsfehlerhafter Weise an. Denn wenn ein Gericht „in dubio pro reo“ vom Vorliegen einer verminderten Schuldfähigkeit ausgeht, darf es sich im Folgenden hierzu nicht in Widerspruch setzen (vgl. BVerwG, Beschluss vom 3. Dezember 2012 – 2 B 32.12 – juris Rn. 12 zur Wahrunterstellung). Das Gericht muss daher auch nachfolgend diesen Sachverhalt „ohne inhaltliche Einschränkung“ seiner Entscheidungsfindung zugrunde legen.
Im Rahmen der nunmehr gebotenen erneuten Durchführung des Berufungsverfahrens wird das Berufungsgericht hinsichtlich der exhibitionistischen Handlungen die nicht auszuschließende erhebliche Verminderung der Steuerungsfähigkeit im Sinne des § 21 StGB hinreichend zu berücksichtigen haben. Hat der Beamte zum Tatzeitpunkt an einer krankhaften seelischen Störung im Sinne von § 20 StGB gelitten oder kann eine solche Störung nach dem Grundsatz „in dubio pro reo“ nicht ausgeschlossen werden und ist die Verminderung der Schuldfähigkeit des Beamten erheblich, so ist dieser Umstand bei der Bewertung der Schwere des Dienstvergehens mit dem ihm zukommenden erheblichen Gewicht heranzuziehen. Bei einer erheblich verminderten Schuldfähigkeit wird die Höchstmaßnahme regelmäßig nicht mehr ausgesprochen werden können (BVerwG, Urteil vom 25. März 2010 – 2 C 83.08 – BVerwGE 136, 173 Rn. 29ff.; Beschluss vom 20. Oktober 2011 – 2 B 61.10 – juris Rn. 9).