Gesamtes Beförderungssystem der Finanzverwaltung könnte kippen – Aufsehenerregendes Urteil des 1. Senates des Hessischer Verwaltungsgerichtshofs vom 09. März 2010, Aktenzeichen 1 A 286/09 – noch nicht rechtskräftig, Revision zugelassen –
Leitsätze:
1. Die Einreihung in eine Beförderungsrangliste allein aufgrund der Gesamtnote der dienstlichen Beurteilungen ist mit dem Prinzip der Bestenauslese nicht vereinbar.
2. Ebenso wenig dürfen Frauen und Schwerbehinderte bei gleicher Gesamtnote einschränkungslos besser eingestuft werden als nicht behinderte Männer.
Sachverhalt:
Der Kläger war als Beamter der Zollverwaltung mehrmals mit der Gesamtnote „Tritt hervor“ beurteilt worden. Daraufhin wurde ihm
– in Anwendung der Richtlinien für die Ausschreibung und Übertragung von Dienstposten sowie für die Beförderung der Beamtinnen und Beamten des höheren und gehobenen Dienstes in der Zollverwaltung und der Bundesmonopolverwaltung für Branntwein (ARZV vom 10.05.2004, Bl. 32 ff GA)
– und der „Grundsätze über die Beförderungsreihenfolge in der Zollverwaltung“ vom 22. August 2002 (Bl. 41/42 GA):
eine Listennummer für weitere Beförderungen zugeteilt, die nach und nach ausgesprochen werden sollten.
Für die Berechnung des Listenplatzes und damit für die antizipierte Entscheidung über die Beförderungsreihenfolge kamen die bereits erwähnten „Grundsätze über die Beförderungsreihenfolge in der Zollverwaltung“ vom 22. August 2002 zur Anwendung, wo es heißt:
„1. Beförderungen sind gemäß §§ 23, 8 BBG nach Eignung, Befähigung und fachlicher Leistung vorzunehmen.
2. Die Reihenfolge bestimmt sich daher nach dem Ergebnis der letzten Regelbeurteilung.Voraussetzung für die Aufnahme in die Beförderungsreihenfolge ist dabei die Zuerkennung der Gesamtwertung „Tritt hervor“ oder besser.
3. Bei gleicher Gesamtwertung richtet sich die weitere Reihenfolge nach dem Ergebnis der Vorbeurteilung in demselben Amt. Dabei stehen Bedienstete ohne Vorbeurteilung Bediensteten mit der Vorbeurteilung „Entspricht den Anforderungen“ gleich.
4. Bei danach gleicher Qualifikation sind schwerbehinderte Beschäftigte und in Bereichen mit Unterrepräsentanz Frauen vorrangig zu berücksichtigen.
5. Die weitere Reihenfolge bestimmt sich unter Beschäftigten gleichen Geschlechts nach den Merkmalen ADA, Vor-ADA, Diensteintritt und Lebensalter.“
Rechtsgrundsätze:
Das in der Vorinstanz entscheidende Verwaltungsgericht Darmstadt [Urteil vom 17.12.2008- 1 K 465/08.DA(3)] und der im Berufungsverfahren tätige Hessische Verwaltungsgerichtshof haben beide das hier praktizierte System der Beförderung nach Beförderungslisten als rechtswidrig eingestuft.
Dabei waren für die Gerichte folgende Gesichtspunkte maßgeblich:
– Die Aufstellung der Rangliste stellt eine vorgezogene Beförderungsauswahl statt; nach der Erstellung der Rangliste findet keine Stellenausschreibung und kein Vergleich zwischen einzelnen Beförderungsbewerbern mehr statt, sondern allein die Reihung entscheidet über die zu befördernde Person. Ein späteres Auswahlverfahren im engeren Sinne gibt es also unmittelbar vor der Beförderung dann nicht mehr.
– Die Einreihung in die Rangliste stellt zugleich nach den verwaltungsinternen Beförderungsregeln eine unabdingbare Vorstufe einer jeglichen Beförderung für die relevante Besoldungsgruppe dar (hier: ein mit A 10 oder A 11 BBesO bewertetes Amt).
– keineswegs darf die Beförderungsrangliste alleine aufgrund der Gesamtnote der aktuellen Beurteilung erstellt werden; die verstößt nach Auffassung der beiden erwähnten Gerichte gegen das Leistungsprinzip und das Gebot der Bestenauslese.
– Nach der höchstrichterlichen Rechtsprechung (vgl. etwa Grundsatzurteil des BVerwG, Urteil vom 28.10.2004 – 2 C 23.03 = BVerwGE 122, 147; ebenso BVerwG, Urteile vom 27.02.2003 – 2 C 16/02 – NVwZ 2003, 1397 und vom 24.11.1994 – 2 C 21.93 – BVerwGE 97, 128 = ZBR 1995, 145) ist der Dienstherr zum Vergleich der Leistung und damit Zwecke der Bestenauslese gehalten, dienstliche Beurteilungen inhaltlich „auszuschöpfen“, d.h. eine Binnendifferenzierung der Beurteilungen vorzunehmen. Der Dienstherr muss also prüfen, ob sich in der Beurteilung neben dem Gesamturteil weitere Elemente finden, die eine vergleichende Aussage über die Leistungsfähigkeit der Beamtin/des Beamten und eine Prognose über zukünftige Leistungen ermöglichen.
– Wenn diese „Ausschöpfung“ der aktuellen Beurteilung keinen Leistungsvorsprung einer Bewerberin/ eines Berwerbers ergibt, ist auch die Leistungsprognose anhand früherer Beurteilungen und der Beurteilungsentwicklung zu prüfen.
– Erst sekundär, wenn alle direkt leistungsbezogenen Erkenntnisquellen einschließlich der Vorbeurteilungen ausgeschöpft sind, darf der Dienstherr weitere Hilfskriterien heranziehen, ohne dabei an eine bestimmte Reihenfolge gebunden zu sein.
Diesen Anforderungen werde – so der Hess. VGH – die Beförderungsliste der hier beklagten Finanzverwaltung nicht gerecht. Das Gericht führt wörtlich zur Begründung aus:
„…die Reihenfolge auf der Rangliste wird ausschließlich nach dem Gesamtergebnis der letzten und ggf. der vorletzten dienstlichen Beurteilung festgelegt, ohne die Beurteilungen umfassend inhaltlich auszuwerten und Binnendifferenzierungen in der Bewertung einzelner Beurteilungsmerkmale oder in der verbalen Gesamtwürdigung zur Kenntnis zu nehmen. Bei gleicher Gesamtnote stellt die Beklagte – jenseits des Geschlechts oder der Schwerbehinderteneigenschaft – sofort auf Hilfskriterien wie Dienstalter oder Lebensalter ab, ohne überhaupt den Versuch zu unternehmen, aus den Beurteilungen selbst weitere Qualifikationsunterschiede herauszulesen. Damit … verkürzt sie den Inhalt der dienstlichen Beurteilungen letztlich auf die Gesamtnote, die jedoch nur e i n – wenn auch besonders bedeutsames – Element der Beurteilung darstellt. (…) Hier kann von einer sachgerechten, unabhängig von individuellen Erwägungen zur Beförderungswürdigkeit einzelner Beamter vorgenommenen Bewertung am Maßstab des § 25 BBesG nicht ausgegangen werden.“
Zusätzliche rügt der Hessische VGH die Bevorzugung von Beamtinnen und schwerbehinderten Bewerbern ohne die vorrangige Ausschöpfung eignungs- und leistungsbezogener Beförderungskriterien.
Letztlich wendet sich der Hessische VGH also nicht gegen die Erstellung einer Beförderungsliste schlechthin, sondern verlangt „nur“, dass in die Beförderungsentscheidung nicht auch nur das Gesamtergebnis eingeht, sondern auch die „Ausschöpfung“ der aktuellen Beurteilung (Leistungsvergleich anhand von Submerkmalen) und unter Umständen auch die Einbeziehung von Vorbeurteilungen. Soweit dies in bereits erstellte Beförderungslisten bisher nicht eingegangen ist, muss dies anhand einer nachfolgend getroffenen Beförderungsentscheidung aktuell nachgeholt werden.
Kommentar:
Die Entscheidung aus Hessen hat keine direkte Bindungswirkung für andere Bundesländer. So wird die Rechtsprechung etwa in NRW alleine durch das Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen in Münster (OVG NRW) und die höchstrichterliche Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts bestimmt. Es gibt jedoch bereits Versuche betroffener Personen (bei Beförderungen übergangene Beamte), diese hessische Rechtsprechung und die referierten Grundsätze auf Gerichtsentscheidungen in NRW zu übertragen. Da sich die Rechtsprechung in einem ständigen Wandlungs- und Anpassungsprozess befindet, ist dies nicht ausgeschlossen, auch wenn die Entscheidung des Hess. VGH noch nicht einmal rechtskräftig ist.
Voraussichtlich wird es 1-2 Jahre dauern, bis das BVerwG über die Revision entschieden hat. Es ist aber damit zu rechnen, dass es bereits vorher zu Entscheidungen des OVG NRW in Eilverfahren kommen wird, in der es entscheidet, ob es dem Hess. VGH zustimmt oder hiervon abweicht. Bei einer Zustimmung werden alle Beförderungsentscheidungen kippen, bei denen Beförderungslisten ohne „Feinausschöfung“ und Berücksichtigung der Vorbeurteilungen, also nur oder vorrangig aufgrund der Gesamtnote erstellt werden. Insbesondere im Bereich der Finanzverwaltung dürfte das besprochene Urteil zu erheblicher Unruhe und zeitweiliger Rechtsunsicherheit bei Beförderungen führen.
Volltext der Entscheidung: Hessenrecht Landesrechtsprechungsdatenbank