„Was lange währt, wird endlich gut!“, Verwaltungsgericht Düsseldorf, Beschluss v. 18.08.2010, Az. 31 K 2315/10.O

VG Düsseldorf zur vorläufigen Einbehaltung von Dienstbezügen in überlangen Disziplinarverfahren

Das Verwaltungsgericht Düsseldorf hat in seinem Beschluss vom 18.08.2010 (Az. 31 K 2315/10.O) entschieden, dass die vorläufige Einbehaltung von Dienstbezügen gem. § 92 DO NRW (ab 2005: § 38 LDG NRW) aufzuheben ist, wenn sie allein aufgrund der überlangen Dauer des Disziplinarverfahrens gegen den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz verstößt.

„Die Anordnung der teilweisen Einbehaltung von Bezügen gemäß § 92 DO hat nicht den Charakter einer Disziplinarmaßnahme, sondern ist eine vorläufige Maßnahme zur vorübergehenden Ordnung eines Zustands, der erst endgültig auf Grund eines einen längeren Zeitraum beanspruchenden förmlichen Verfahrens geregelt wird. Dabei wird von Amts wegen und ohne bestandskräftige Feststellung eines pflichtwidrigen Verhaltens in eine Rechtsposition eingegriffen.“

Vor diesem Hintergrund sei es der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz, der die Dauer dieser Maßnahme zwingend begrenzt.

„Da innerhalb einer stetig verlaufenden zeitlichen Entwicklung des Disziplinarverfahrens der präzise Zeitpunkt, zu dem eine zunächst verhältnismäßige – mit zunehmender Dauer allerdings immer stärker in einen Widerstreit mit dem Prinzip der Verhältnismäßigkeit geratende – Belastung des Betroffenen […] in eine unverhältnismäßige Belastung umschlägt, nicht feststellbar ist, bedarf es zur hinreichenden Begründung der Unverhältnismäßigkeit ihrer sich aus den Umständen ergebenden Evidenz.“

Wenn also im Einzelfall eine deutlich aus dem Rahmen fallende, ungewöhnlich lange Dauer des Disziplinarverfahrens vorliege, so könne – im Hinblick auf den im Disziplinarrecht geltenden Beschleunigungsgrundsatz – bereits diese Tatsache alleine zur Unverhältnismäßigkeit der Maßnahme führen. Dann komme es auch nicht mehr auf andere Verfahrensmängel an. Dabei spiele es keine Rolle, ob die Verfahrensverzögerung von der Behörde verschuldet sei. Alleine die lange Dauer des Verfahrens als solche führt nämlich dazu -so das Gericht-, dass sich die vom Gesetzgeber als vorläufig gewollte Maßnahme (Gehaltskürzung) in eine dauerhafte Regelung verwandelt. In diesem Sinne führt das VG Düsseldorf auf S. 5 des Urteilsumdrucks aus:

„Dem kann nicht entgegengehalten werden, dass es keine seitens der Einleitungsbehörde vermeidbare Verzögerung des Disziplinarverfahrens gegeben hat, denn Mängel bei der Durchführung des Verfahrens sind in einem derartigen ‚zeitlichen Extremfall‘ wie dem vorliegenden nicht zwingend Voraussetzung für die Aufhebung der Einbehaltungseinordnungsanordnung. Deren ‚evidente Unverhältnismäßigkeit‘  ergibt sich vielmehr bereits aus der Tatsache, dass seit ihrem Erlass nunmehr mehr als 10 Jahre vergangen sind und dem Beamten, der nach wie vor einen Anspruch auf amtsangemessene Alimentierung hat, in dieser Zeit die Hälfte seines Gehalts vorenthalten ist (…). Im Übrigen ist auch kein Grund erkennbar, wieso der Vertreter der Einleitungsbehörde nach dem rechtskräftigen Abschluss des Strafverfahrens im Juni 2007 weitere zwei Jahre benötigt hat, um die Anschuldigungsschrift zu fertigen.“

Kurzkommentierung zu dieser Entscheidung:

Dieser Beschluss sollte im Hinblick auf alle bereits seit längerem andauernde Disziplinarverfahren im Auge behalten werden. Im Disziplinarrecht gibt es nämlich eine Vielzahl von Verfahren, bei denen eine überlange Verfahrensdauer auftritt. Dies gilt insbesondere dann, wenn ein Strafverfahren -eventuell durch mehrere Instanzen- vorausgegangen ist. Überhaupt wendet sich insgesamt das Blatt für alle, die unter der überlangen Dauer ihrer Verfahren zu leiden haben. Dies zeigt sich auch an dem nun endlich, am gleichen Tag, wie der hier zitierte Beschluss veröffentlichte Gesetzesentwurf für ein Gesetz zum Schutz vor überlanger Verfahrensdauer. Auch diesem Gesetz liegt der Gedanke zu Grunde, dass überlange Gerichtsverfahren vermieden werden sollen, da dies elementare Rechtsstaatsprinzipien und obendrein auch das europarechtlich geschützte Recht auf ein schnelles und effektives Verfahren gem. Art. 6 EMRK verletzt. Indirekt zeigt sich damit die positive Auswirkung der europarechtlichen Vorschriften, insbesondere der Europäischen Menschenrechtskonvention, und der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte.

Fraglich ist allerdings, ob das Urteil des Verwaltungsgerichts in seiner rechtlichen Bewertung Bestand hat, dass eine überlange Verfahrensdauer pauschal an der Zeit von 10 Jahren gemessen werden kann. Zwar hat auch das OVG NRW in einem nicht veröffentlichten Beschluss vom 21. Januar 2010 – 3d B 295/10.O – diese Rechtsauffassung vertreten. Andererseits hat aber das Bundesverfassungsgericht gerade kürzlich in seinem Beschluss vom 24. August 2010 – 1 BvR 331/10 – ausgeführt, dass ein schwerer Verstoß gegen Verfassungsrecht (Art. 19 Abs. 4 GG) bereits dann vorliegt, wenn das Gericht vier Jahre benötigt, um eine für den Betroffenen elementare Rechtsfrage zu klären. Das Bundesverfassungsgericht stellt dabei nicht auf eine pauschale „Jahresgrenze“ ab, sondern betont, dass eine Einzelfallprüfung stattfinden muss.

Dabei seien die Bedeutung der Sache für die betroffene Prozesspartei, ferner die Ursachen und die Auswirkungen einer langen Verfahrensdauer sowie die Schwierigkeit der Sachmaterie zu berücksichtigen. Das Bundesverfassungsgericht betont, dass besondere Eile geboten sei, wenn das Verfahren eine „Statusfrage“ betrifft. Dies ist aber bei Disziplinarverfahren regelmäßig der Fall, besonders dann, wenn eine Entfernung aus dem Dienst streitig ist. Nach Auffassung des Unterzeichners wäre daher bei einer Gehaltskürzung im Disziplinarverfahren zu klären, welche konkreten Auswirkungen dies für den Betrofffenen hat. Ein jahrelanger Ausschluss von den Sozialsystemen (im vorliegenden Fall war sogar streitig, ob die Mitgliedschaft im Sportverein zum Lebensminimum gehört) kann z.B. verheerende psychische Folgen haben, die für die Verhältnismäßigkeit der Dauer auch bedacht werden müssen. Die Feststellung, dass erst bei 10 Jahren eine Unverhältnismäßigkeit der Einbehaltung auftritt, dürfte daher nicht das letzte Wort der Rechtsprechung in dieser Angelegenheit sein.

Der hier vertretene Antragsteller hat gleichwohl gegen die Entscheidung des VG Düsseldorf, dass (erst) nach 10 Jahren eine Unverhältnismäßigkeit der Einbehaltungsanordnung eintritt, keine Rechtsmittel eingelegt, so dass die Entscheidung der Disziplinarkammer des VG nun bestandskräftig geworden ist.