Neue Entwicklung im Disziplinarrecht – zum Verhältnis von Strafverfahren und Disziplinarverfahren – Entscheidungen des Bundesverwaltungsgerichts v. 19.08.2010, Az. 2 C 5.10 und Az. 2 C 13.10

Das Bundesverwaltungsgericht (BVerwG) hat in zwei Entscheidungen vom 19.08.2010 maßgebliche Aussagen zum Verhältnis der Disziplinarstrafe zum Strafverfahren getroffen. Die beiden Verfahren betrafen zwar den Sonderfall des Vorwurfs von Kinderpornografie, sind aber auch anderweitig für alle Disziplinarfälle relevant, in denen dem Disziplinarverfahren ein Strafverfahren vorausgegangen ist. Das BVerwG hat in den beiden Urteilen zum Ausdruck gebracht, dass auch die Höhe der Strafandrohung für die Tat, welche der Beamtin / dem Beamten vorgeworfen wird, maßgebliche Bedeutung für die später auszusprechende Disziplinarsanktion hat. Die abstrakte Strafandrohung für das jeweilige Delikt (nicht also die konkret ausgesprochene Strafe) schaffe einen „Orientierungsrahmen“ für die Disziplinarmaßnahme. Bisher war es immer ein unstreitiger Grundsatz der Disziplinargerichte, dass Strafverfahren und Disziplinarverfahren völlig andere Ziele verfolgten und daher die Strafandrohung für das Disziplinarverfahren irrelevant sei. Dies führte gelegentlich dazu, dass auch bei Delikten, die sich im leichten oder mittleren Strafrahmen bewegten, disziplinarische Höchststrafen ausgesprochen wurden. Nunmehr wird in zukünftigen Entscheidungen -insbesondere bei der Bestimmung der richtigen Disziplinarmaßnahme- das Verhältnis von Straf- und Disziplinarverfahren neu zu bestimmen sein. Im Wesentlichen lassen sich den beiden Entscheidungen des BVerwG folgende Aussagen entnehmen:

1. Der Begriff des „außerdienstlichen Dienstvergehens“ wurde vom Bundes- und Landesgesetzgeber neu geregelt, wobei es die Zielsetzung der Gesetzgeber war, die Sanktion bei Rechtsverstößen von Beamtinnen/Beamten im außerdienstlichen Bereich einzuschränken. Damit solle den realen gesellschaftlichen Änderungen Rechnung getragen werden, wonach von Beamten jedenfalls im außerdienstlichen Bereich „kein wesentlich anderes Sozialverhalten als von jedem anderen Bürger erwartet wird“.

2. Was Zuhause auf einem privaten Computer gespeichert wird, ist zunächst einmal eine rein außerdienstliche Angelegenheit. Dienstliche Vergehen können sich nur aus einem direkten dienstlichen Bereich ergeben, etwa durch das Speichern auf einem Dienstcomputer.

3. Ein außerdienstliches Dienstvergehen kann gleichwohl einen Rückbezug zum Dienstposten der Beamtin / des Beamten haben. Dies ist dann im Rahmen der Bemessung einer Disziplinarmaßnahme zu berücksichtigen, macht die Tat aber nicht zu einem innerdienstlichen Verstoß. So gibt z.B. die Speicherung von Kinderpornografie auf einem privaten Computer eines Lehrers Anlass, die Disziplinarmaßnahme zu erhöhen, weil ein Lehrer eine besondere Erziehungspflicht gegenüber Schülern hat. Diese Dienstpflicht wird durch Kinderpornografie-Speicherungen verletzt.

4. Bei realen Eingriffen in die sexuelle Selbstbestimmung eines Kindes gibt es die Regelmaßnahme der Entfernung. Ein solches Sexualdelikt ist derart schwerwiegend, dass die Entfernung aus dem Dienst oder die Aberkennung des Ruhegehalts geboten ist, wenn es an gewichtigen entlastenden Umständen fehlt.

5. Anders als bei solchen realen Taten ist beim Besitz von Kinderpornografie eine Regeleinstufung nicht möglich, weil die Variationsbreite der außerdienstlichen Verfehlung zu groß ist. Es ist insbesondere nach der Dauer und Häufigkeit der Verfehlung, den Beweggründen der Beamtin / des Beamten für sein Handeln und auch auf weitere objektive und subjektive Merkmale abzustellen.

6. Besondere Bedeutung für den Orientierungsrahmen der Disziplinarstrafe spielt dabei die Frage, welche Strafandrohung der Gesetzgeber für die verletzte Strafnorm zur Verfügung stellte. Der Ansehensschaden, der letztendlich maßgeblich ist, richtet sich danach, welche Strafhöhe der Gesetzgeber im Strafgesetzbuch ausgesprochen hat.

7. Dann, wenn der Gesetzgeber eine Strafandrohung von lediglich einem Jahr Freiheitsstrafe ausgesprochen hat, kommt beim Fehlen eines Dienstbezugs lediglich eine Disziplinarmaßnahme „im unteren Bereich“ in Betracht. Wenn aber ein Dienstbezug vorliegt, wie etwa einem Lehrer, ist im Regelfall eine Zurückstufung / Degradierung geboten. Dann, wenn die außerdienstliche Straftat mit einer Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahren oder mehr bedroht ist, ist bei einem Lehrer regelmäßig eine Entfernung aus dem Dienst auszusprechen. Bei anderen Beamten ist eine mittlere Disziplinarstrafe geboten, da es sich nach den Kriterien des Strafgesetzbuchs bei einer Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahren um eine Strafandrohung im mittleren Bereich handelt.

8. Die Verwaltungsgerichte sind nicht befugt, ihre eigene Bewertung der Schwere einer Tat an die Stelle des Gesetzgebers zu setzen, der mit der gesetzlichen Strafsanktion selber ein Werturteil über die Schwere des Deliktes ausgesprochen hat.

9. Abweichungen in der Disziplinarmaßnahme nach oben oder unten können sich aus den oben unter Ziff. 5 angesprochenen besonderen Umständen ergeben. Insbesondere ist in Fällen festgestellter Kinderpornografie bedeutsam, um welche Anzahl es sich handelt, d.h. wieviele strafbare Bilddateien oder Videosequenzen abgespeichert wurden.

10. In bestimmten Fällen kann aus Rechtsgründen eine disziplinarische Ahndung ganz unzulässig sein. Dies gilt etwa dann, wenn nur eine Zurückstufung ausgesprochen werden könnte, diese aber unmöglich ist, etwa weil sie aus laufbahnrechtlichen Gründen unmöglich ist (Beamtin / Beamte befindet sich noch im Eingangsamt). In diesem Fall ist die nächst mildere Maßnahme auszusprechen, soweit diese rechtlich zulässig ist. Dabei sind auch die besonderen Voraussetzungen des  § 14 BDG/LDG NRW zu prüfen. Erlaubt der einschlägige § 14 BDG/LDG NRW überhaupt eine Disziplinarsanktion, dann spricht es für deren Zulässigkeit, wenn die nächst höhere Maßnahme aus Rechtsgründen gescheitert ist. Ebenso kann allerdings durch die Vorschriften der §§ 14 oder 15 BDG/LDG NRW eine Disziplinarsanktion überhaupt unzulässig werden.

Diese Grundsätze spielten kürzlich in einem Disziplinarprozess der Landesdisziplinarkammer des Verwaltungsgerichts Düsseldorf eine Rolle, für das die mündliche Verhandlung stattfand. Die Disziplinarkammer stellte das dort betroffene Verfahren gem. § 75 DO NW ein; hier war noch altes Recht anwendbar, da das Verfahren sehr lange anhängig war. Die Disziplinarkammer erörterte zunächst, ob das Gericht der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts folgen solle. Dies war bedeutsam, da die Entscheidung des BVerwG für das erstinstanzliche Gericht nicht bindend im Rechtssinne ist. Auch gibt es in gerichtlichen Disziplinarverfahren nach altem Recht keine Revision zum Bundesverwaltungsgericht. Die Disziplinarkammer deutete an, dass sie gewisse Bedenken hat, die Rechtsprechung des BVerwG zu übernehmen. Gleichwohl sei im betroffenen Verfahren eine Einstellung zu verfügen, da auch ohne den vom BVerwG erwähnten Orientierungsrahmen ein Ausspruch der Höchststrafe nicht angemessen wäre. In dem zu beurteilenden Fall gäbe es relativ viele Milderungsgründe, so dass in jedem Fall nur die zweithöchste Strafe, die Ruhegehaltskürzung, ausgesprochen werden könnte. Dies ergab sich u.a. daraus, dass dem Beamten im Endergebnis nur relativ wenige Bilddateien vorzuwerfen waren, wobei diese Bilder nur ein kleiner Bruchteil einer viel größeren Zahl strafrechtlich nicht zu beanstandender erotischer Bilder waren. Die Landesdisziplinarkammer führte weiter aus: Der Gesetzgeber habe durch die Neufassung des § 14 LDG NRW festgelegt, dass neben einer förmlichen Strafe im strafgerichtlichen Verfahren nicht noch eine Ruhegehaltskürzung ausgesprochen werden könne. Nach dem allgemein im Disziplinarrecht geltenden Günstigkeitsprinzip sei dieses neue Recht hier anwendbar. Das Disziplinarverfahren war damit zwingend einzustellen, da die eigentlich gebotene Disziplinarstrafe aus rechtlichen Gründen nicht verhängt werden durfte.

Diese Frage, wie die Rechtsprechung des BVerwG zum „Orientierungsrahmen“ umzusetzen ist, wird sicher noch in einer Vielzahl weiterer Verfahren eine Rolle spielen, auch außerhalb des konkret betroffenen Bereichs der hier relevanten Vorwürfe.

 

Dr. Obst
Rechtsanwalt