neue Verfahrensordnung für den Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH)

Konfrontiert mit einem ständig zunehmenden Streitsachenvolumen, bei dem die Vorabentscheidungsersuchen deutlich überwiegen, hat der Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) zum 1. November 2012 seine Verfahrensvorschriften angepasst, um den Besonderheiten dieser Streitsachen besser Rechnung zu tragen. Er stärkt damit zugleich seine Fähigkeit, sämtliche bei ihm anhängig gemachten Rechtssachen innerhalb angemessener Fristen zu erledigen. Auch für das Verfahren vor dem Gericht für den öffentlichen Dienst (EuGöD) gelten die Bestimmungen der Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Union, insbesondere diejenigen des Anhangs I, und seine Verfahrensordnung.Mit der Überarbeitung seiner Verfahrensordnung, die am 1. November 2012 in Kraft getreten ist, beabsichtigt der Gerichtshof in erster Linie, sich der Entwicklung der vor ihn gebrachten Streitsachen anzupassen. Die am 25. September 2012 erlassene Verfahrensordnung des Gerichtshofs ist im Amtsblatt der Europäischen Union vom 29. September 2012 veröffentlicht worden.

Trotz der nach und nach erfolgten Änderungen der Verfahrensordnung des Gerichtshofs hat sich deren Struktur nämlich seit ihrem ursprünglichen Erlass am 4. März 1953 nicht grundlegend verändert. Sie spiegelt immer noch das Überwiegen der Klageverfahren wider, in denen sich meist eine natürliche oder juristische Person oder ein Mitgliedstaat auf der einen Seite und ein Unionsorgan auf der anderen Seite gegenüberstehen, während in Wirklichkeit diese Art von Rechtssachen mit Ausnahme der Vertragsverletzungsklagen und einiger besonderer Kategorien von Nichtigkeitsklagen heutzutage weitgehend nicht mehr in die Zuständigkeit des Gerichtshofs fällt. Im Jahr 2012 sind es die Vorabentscheidungsersuchen der Gerichte der Mitgliedstaaten, die quantitativ die Hauptkategorie der Rechtssachen beim Gerichtshof ausmachen. Die neue Verfahrensordnung soll diese Realität besser widerspiegeln, indem sie diesen Ersuchen einen eigenen Titel widmet und dabei die darin enthaltenen Vorschriften vervollständigt und zugleich sowohl für die Einzelnen als auch für die nationalen Gerichte klarer gestaltet.

Ein zweiter zentraler Zweck der Überarbeitung hängt mit dem Bestreben des Gerichtshofs zusammen, die langjährigen Anstrengungen fortzuführen, um angesichts eines immer größeren Streitsachenvolumens die bei ihm anhängigen Rechtssachen weiterhin innerhalb angemessener Fristen erledigen zu können. Mit der neuen Verfahrensordnung werden somit mehrere Maßnahmen eingeführt, die eine rasche und effiziente Bearbeitung der Rechtssachen begünstigen sollten. Zu erwähnen sind unter diesen Maßnahmen insbesondere die Möglichkeit für den Gerichtshof, einen Beschluss zu erlassen, um die Länge der bei ihm eingereichten Schriftsätze oder schriftlichen Erklärungen zu begrenzen, oder eine Lockerung der Voraussetzungen für den Erlass eines mit Gründen versehenen Beschlusses durch den Gerichtshof namentlich für den Fall, dass eine von einem nationalen Gericht zur Vorabentscheidung vorgelegte Frage keinen Raum für vernünftige Zweifel lässt.

Die neuen Regeln enthalten außerdem einige bedeutende Neuerungen in Bezug auf das mündliche Verfahren. Der Gerichtshof wird nämlich, wenn er sich durch die von den Parteien eingereichten Schriftsätze und schriftlichen Erklärungen für hinreichend unterrichtet hält, grundsätzlich nicht mehr gehalten sein, eine mündliche Verhandlung durchzuführen, was es ihm ermöglichen sollte, die ihm unterbreiteten Rechtssachen innerhalb kürzerer Zeit zu entscheiden. Im Übrigen sieht die neue Verfahrensordnung für den Fall der Durchführung einer mündlichen Verhandlung vor, dass der Gerichtshof die Parteien auffordern kann, ihre mündlichen Ausführungen auf eine oder mehrere festgelegte Fragen zu konzentrieren, oder dass er für mehrere gleichartige Rechtssachen, die den gleichen Gegenstand haben, eine gemeinsame mündliche Verhandlung durchführen kann. Außerdem wird der Sitzungsbericht, der Kosten und Verzögerungen bei der Bearbeitung der Rechtssachen verursacht, abgeschafft.
Neben den genannten Zielen soll die neue Verfahrensordnung zudem die bestehenden Regeln und Praktiken klären. So wird eine klarere Unterscheidung zwischen den Vorschriften, die für alle Verfahrensarten gelten, und den auf die einzelnen Verfahrensarten (Vorabentscheidungsverfahren, Klageverfahren und Rechtsmittelverfahren) anwendbaren spezifischen Vorschriften getroffen, und alle Artikel der neuen Verfahrensordnung erhalten eine Absatznummerierung und eigene Überschriften, was die Orientierung erleichtert. In Bezug auf Vorabentscheidungssachen sei insbesondere darauf hingewiesen, dass die neue Verfahrensordnung nunmehr eine Bestimmung, die den unerlässlichen Mindestinhalt jedes Vorabentscheidungsersuchens regelt, und eine Bestimmung über die Anonymität enthält, was den nationalen Gerichten bei der Abfassung ihrer Vorlagen unter gleichzeitiger Gewährleistung einer größeren Achtung des Privatlebens der Parteien des Ausgangsrechtsstreits helfen sollte. In Rechtsmittelsachen klärt die neue Verfahrensordnung die Regelung für Anschlussrechtsmittel, die auf ein Rechtsmittel hin eingelegt werden. Anschlussrechtsmittel werden künftig immer mit gesondertem Schriftsatz einzulegen sein, was ihre Bearbeitung durch den Gerichtshof in der Folge erleichtern sollte.

Schließlich werden mit dieser Überarbeitung der Verfahrensordnung bestehende Regeln vereinfacht, sei es durch die Abschaffung mancher obsoleter oder nicht angewandter Vorschriften, sei es durch die Revision der Verfahrensmodalitäten bei der Behandlung bestimmter Sachen. Angeführt werden können hier beispielhaft die Vereinfachung der Vorschriften über den Streitbeitritt der Mitgliedstaaten und der Unionsorgane, die Bestimmung einer mit den Überprüfungssachen betrauten Kammer für die Dauer eines Jahres oder die Erleichterung der Behandlung von Anträgen auf Gutachten dadurch, dass künftig die Beteiligung nur eines Generalanwalts (und nicht mehr aller Generalanwälte des Gerichtshofs) vorgesehen ist.

Einzeln genommen lässt sich zweifellos mit keiner der genannten Maßnahmen allein die Tendenz der steigenden Zahl von – immer komplexer werdenden – Rechtssachen oder der Dauer ihrer Bearbeitung abschwächen. Der Gerichtshof ist jedoch davon überzeugt, dass diese Maßnahmen in ihrer Gesamtheit das sicherste Mittel sind, das es ihm erlaubt, seine Aufgabe, innerhalb angemessener Fristen für die Wahrung des Rechts bei der Auslegung und Anwendung der Verträge zu sorgen, weiterhin zu erfüllen.

 

Material: Pressemitteilung Nr. 122/12 vom 03.10.2012