Kommentar zu BVerwG 2 B 61.10 (Beschluss vom 20. Oktober 2011)
Mit dem Bundesdisziplinargesetz vom 9. Juli 2001, BGBl. I S. 1510 (BDG), wurde erstmals die Möglichkeit einer Revision in Disziplinarsachen eröffnet (§§ 69 ff. BDG). Ebenfalls lässt § 67 Landesdisziplinargesetz NRW vom 16. November 2004, GV. NRW. S. 624 (LDG NRW), die Revision in gerichtlichen Disziplinarverfahren erstmals zu. Gegen das Urteil des Oberverwaltungsgerichtes steht danach den Beteiligten die Revision zum Bundesverwaltungsgericht zu, wenn das Oberverwaltungsgericht selbst oder auf eine anwaltliche Beschwerde gegen die Nichtzulassung hin das Bundesverwaltungsgericht sie selbst zugelassen hat.
Lange Zeit hatte diese Regelung über die Möglichkeit der Revision trotz des Gesetzes von 2001 noch keine praktische Bedeutung, denn § 85 BDG und § 82 LDG NRW bestimmen zugleich, dass die nach bisherigem Recht eingeleiteten Disziplinarverfahren weitesgehend nach altem Recht (BDO bzw. DO NW) fortgesetzt und zu Ende geführt werden. In diesen Verfahren war dann die Revision generell ausgeschlossen, da sie nach alten Recht zu Ende geführt wurden.
Nunmehr kommen erst langsam die jüngeren Verfahren in die Berufungsinstanz, die nach neuem Recht und damit mit der Möglichkeit einer Revisionsinstanz geführt werden. Nach der letzten Tatsacheninstanz vor dem Disziplinarsenat des Oberverwaltungsgerichts kann damit entweder vom Oberverwaltungsgericht selbst die Revision zugelassen werden (was selten ist) oder aber eine anwaltliche Nichtzulassungs-beschwerde erhoben werden.
In einem dem Verfahren, das der nachfolgend besprochenen Entscheidung zugrunde liegt, wurde diese Möglichkeit erfolgreich genutzt. Das Bundesverwaltungsgericht hat in dem Beschluss vom 20. Oktober 2011 eine solche Nichtzulassungsbeschwerde positiv entschieden und das Verfahren nach der Feststellung rechtlicher Verfahrensfehler sogleich an das Oberverwaltungsgericht für das Land NRW zurückverwiesen. In dem Zurückverweisungs-Beschluss hat das Bundesverwaltungsgericht einige wichtige Rechtssätze aufgestellt, die im weiteren Verfahren dem beschwerdeführenden Beamten zu Gute kommen. Insbesondere hat das Bundesverwaltungsgericht ausgeführt, dass ärztliche Feststellungen, die eine mögliche Schuldminderung zum Gegenstand haben, nicht ohne Weiteres für irrelevant erklärt werden dürfen. Ferner hat das Bundesverwaltungsgericht unterstrichen, dass erhebliche Schuldminderungen im Regelfall die Anwendung der Höchststrafe ausschließen. Das Bundesverwaltungsgericht beschäftigt sich weiterhin mit der Frage einer etwaigen Bindung an strafgerichtliche Urteile. Nach den gesetzlichen Vorschriften im BDG/LDG NRW sind die tatsächlichen Feststellungen in Strafurteilen im Normalfall bindend für das Disziplinarverfahren. Dies bedeutet zugleich, dass auch bei Strafverfahren von Beamten größte Sorgfalt einzuhalten ist, da die Feststellungen des Strafgerichts vielfach im späteren Disziplinarverfahren nicht erneut überprüft werden. Strafverfahren von Beamten können daher niemals nach dem Grundsatz „wenn das Urteil nicht so schlimm ist, brauchen wir es nicht anfechten“ abgeschlossen werden. Viele Strafverteidiger gehen aber so vor, dass sie fragwürdige Sachverhaltsfeststellungen hinnehmen, solange für ihre Mandanten Bewährungsstrafen unter einem Jahr oder Geldstrafen herauskommen. Vielfach ist unbekannt, dass auch Strafurteile unter einem Jahr, die zur Bewährung ausgesetzt sind, zur Entfernung aus dem Dienst führen könnten.
Das Bundesverwaltungsgericht führt hierzu aus, die Bindung an Strafurteile sei dann jedoch nicht gegeben, wenn neue Beweismittel vorliegen, die das Urteil des Strafgerichts im Tatbestand oder in der Schuldfrage in Zweifel ziehen. Es ist also keineswegs zwingend erforderlich, in derartigen Fällen zuerst ein Wiederaufnahmeverfahren vor dem Strafgericht zu betreiben. Vielmehr müssen die Disziplinargerichte die neuen Beweismittel von sich aus bewerten und berücksichtigen. Dabei ist auch nicht erforderlich, dass die neuen Beweismittel zwingend schon zu einer anderen Bewertung führen. Das Disziplinargericht muss ihnen bereits dann nachgehen, wenn ein anderes Ergebnis möglich erscheint.
Einen Automatismus, wonach ein Strafurteil automatisch „das letzte Wort“ auch für das Disziplinarverfahren ist, kann es nach diesen Feststellungen des Bundesverwaltungsgerichts nicht geben.
Auch in der Frage der verminderten Schuldfähigkeit wendet sich das Bundesverwaltungsgerichts gegen jeden Schematismus und Automatismus. In der anwaltlichen Praxis war immer wieder festzustellen, dass die Disziplinarkammern und Disziplinarsenate greifbaren Hinweisen auf schwere psychische Krisen nicht nachgingen mit der geradezu formelhaft wiederholten Begründung, der vorgeworfene Disziplinarvorwurf sei so schwerwiegend, dass es auf eine Schuldminderung überhaupt nicht ankäme. Das BVerwG betont demgegenüber, dass auch eine erheblich verminderte Schuldfähigkeit regelmäßig zu berücksichtigen ist und im Regelfall sogar die Höchststrafe (Entfernung aus dem Dienst oder Aberkennung des Ruhegehalts) ausschließt.
In der nachfolgend abgedruckten Entscheidung findet sich somit die Tendenz, dass das Bundesverwaltungsgericht stark auf die Disziplinarrechtsprechung Einfluss nimmt, noch mehr, als es früher der Fall war. Nach altem Recht (BDO /DO NW) war das Bundesverwaltungsgericht lediglich als Berufungsinstanz in Verfahren von Bundesbeamten tätig, nicht aber bei anderen Beamtengruppen. In den Verfahren, die nach dem Oberverwaltungsgericht endeten, konnte eine Abweichung von Grundsätzen des Bundesverwaltungsgerichts nicht gerügt werden. Indem jetzt die Möglichkeit besteht, dass das Bundesverwaltungsgericht Entscheidungen eines Oberverwaltungsgericht überprüft, werden neue Korrekturmöglichkeiten eröffnet, die naturgemäß nach entsprechender Abwägung von dem im Disziplinarrecht tätigen Anwalt berücksichtigt und genutzt werden müssen.
In den nachfolgend benannten Leitsätzen (es handelt sich nicht um Leitsätze des Gerichts, sondern um die vom Verfasser als Kernaussagen des Gerichtes bewerteten Rechtsgrundsätze) werden zunächst einmal zwei verfahrensrechtliche Verfahren behandelt, die sicherlich mehr für die betroffenen Anwälte interessant sind und erst zweitrangig für den betroffenen Mandanten. Hier geht es nämlich um die Frage, welche Rügen und Anträge der Anwalt erheben kann und welche Voraussetzungen dafür vorliegen müssen. Für den Betroffenen wird sicherlich nur das Ergebnis zählen, nämlich dass eine zulässige Beschwerde erhoben und vom Bundesverwaltungsgericht angenommen wird. Die Formulierung derartiger Nichtzulassungsbeschwerden ist schon allgemein im Verwaltungsrecht die „hohe Schule“ des Rechtsanwalts und wegen der vielfältigen formellen Anforderungen sowie der Fristgebundenheit eine anspruchsvolle Aufgabe, die verwaltungs-rechtliches Spezialwissen erfordert. Im Disziplinarrecht gilt dies in besonderer Weise. Hier ist zusätzlich umfangreiches Wissen im Bereich des materiellen Disziplinarrechts und des gerichtlichen Disziplinarverfahrens erforderlich. Ohne diese Voraussetzungen ist es kaum möglich, eine erfolgreiche Nichtzulassungsbeschwerde gegen ein Disziplinarurteil einzureichen.
Der nachfolgend abgedruckte Beschluss unterstreicht des Weiteren, dass die Tatsachengerichte (Disziplinarkammern und Disziplinarsenate) nicht vorschnell Beweisanträge ablehnen dürfen, die zwar nicht den vorgeworfenen Sachverhalt selbst, wohl aber Bemessungsgesichtspunkte, wie etwa die Schuldfähigkeit betreffen. Damit wird dem allgemeinen rechtlichen Grundsatz Rechnung getragen, dass auch im Disziplinarrecht das Schuldprinzip gilt und Schuldminderungsgründe nicht leichtfertig übergangen werden dürfen. Zugleich zeigt die zitierte Entscheidung des BVerwG auch auf, dass eine erfolgreiche anwaltliche Tätigkeit im Revisionsverfahren regelmäßig schon in der Berufungsinstanz vorbereitet werden muss. In dem hier besprochenen Beschluss waren es letztlich die in der mündlichen Verhandlung vor dem Oberverwaltungsgericht gestellten (und vom Oberverwaltungsgericht nicht berücksichtigten) Beweisanträge, die dann im Revisionsverfahren zur positiven Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts führten. Die anwaltliche Sorgfalt gebietet also im Disziplinarrecht, dass der beteiligte Anwalt spätestens im Berufungsverfahren (möglichst früher) alle zur Sachaufklärung erforderlichen Beweisanträge ausdrücklich stellen muss und nicht darauf vertrauen darf, dass das Gericht von sich aus allen Gesichtspunkten nachgeht. Letzteres soll nach den Vorschriften des Gesetzes zwar die Regel sein, ohne entsprechende Beweisanträge des Anwalts kann eine Verletzung des beschriebenen Grundsatzes aber oftmals nicht gerügt werden.
Dies alles zeigt, wie sehr das Disziplinarrecht eine Spezialmaterie darstellt, die ihre eigenen Besonderheiten aufweist und langjährige Erfahrung auf diesem Gebiet voraussetzt.