Die Dauer eines Disziplinarverfahrens ist für den betroffenen Beamten stets besonders belastend. Denn selbst für den Fall, dass sich die erhobenen Vorwürfe am Ende nicht bestätigen, ist der Beamte sehr häufig stigmatisiert, von bestimmten dienstlichen Aufgaben entbunden, von Beurteilungen und Beförderungen ausgeschlossen. Je nach Intensität der Vorwürfe sind auch die Bezüge gekürzt und der Beamte wurde vom Dienst suspendiert oder ein Hausverbot wurde erteilt. Daher schreiben das Bundes- und Landesdisziplinarrecht den Beschleunigungsgrundsatz fest.
In einem aktuellen Beschluss hat sich nun das Bundesverwaltungsgericht damit befasst, ob die Länge des Verfahrens auch zu einer niedrigeren Disziplinarsanktion führen muss und ob ein Dienstherr seine Disziplinargewalt verwirken kann.
Im vorliegenden Fall hatte das Verwaltungsgericht den Beklagten, einen Kriminalbeamten im Dienst des Klägers, wegen unerlaubten Fernbleibens vom Dienst für einen Zeitraum von fast neun Jahren zwischen 1989 bis 1998 aus dem Beamtenverhältnis entfernt. Der Verwaltungsgerichtshof hat das Urteil bestätigt und den Umstand, dass das behördliche Disziplinarverfahren viele Jahre gedauert hat, bei der Maßnahmebemessung nicht mildernd berücksichtigt. Die disziplinarrechtlichen Vorermittlungen waren im Mai 1989 eingeleitet worden; der Schlussbericht des Untersuchungsführers datiert vom 30. August 1995. Im Frühjahr 1998 wurden die disziplinarischen Untersuchungen ausgedehnt. Der zusammenfassende Bericht des Untersuchungsführers datiert vom 27. Juni 2005. Im Mai 2008 wurde dem Beklagten das wesentliche Ergebnis der Ermittlungen mitgeteilt. Im Juli 2009 hat der Kläger Disziplinarklage erhoben.
Fraglich war daher, ob die Dauer des Verfahrens zu Gunsten des Beamten berücksichtigt werden musste. Hierzu führt das Bundesverwaltungsgericht in seinem Beschluss aus:
In der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts ist geklärt, dass der allgemeine Rechtsgrundsatz der Verwirkung auf die Ausübung der Disziplinarbefugnis keine Anwendung findet. Die disziplinarische Verfolgung von Dienstvergehen kann nicht durch Verwirkung oder durch Verzicht seitens des Dienstherrn ausgeschlossen werden. Dieser Rechtsprechung liegt die Erwägung zugrunde, dass der Zweck der Disziplinarbefugnis nicht darin liegt, begangenes Unrecht zu vergelten. Vielmehr geht es darum, unter Beachtung des Schuldprinzips und des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit die Integrität des Berufsbeamtentums und die Funktionsfähigkeit des öffentlichen Dienstes aufrechtzuerhalten. Für eine Anwendung des Rechtsinstituts der Verwirkung ist neben den gesetzlichen Regelungen über Disziplinarmaßnahmeverbote wegen Zeitablaufs und Verwertungsverbote (vgl. §§ 18, 19 HDG) kein Raum (Urteil vom 5. Mai 1998 – BVerwG 1 D 12.97 – Buchholz 232 § 54 Satz 2 BBG Nr. 16 S. 48 m.w.N.; Beschlüsse vom 6. Juli 1984 – BVerwG 1 DB 21.84 – BVerwGE 76, 176und vom 13. Oktober 2005 – BVerwG 2 B 19.05 – Buchholz 235.1 § 15 BDG Nr. 2 Rn. 5).
Die Ausführungen des Beklagten zur Bedeutung der unangemessen langen Verfahrensdauer für die Maßnahmebemessung genügen den Darlegungsanforderungen nach § 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO, § 73 HDG nicht. Hierfür reicht es nicht aus, darauf hinzuweisen, dass zwischen der Einleitung disziplinarischer Vorermittlungen und der Erhebung der Disziplinarklage oder zwischen einzelnen Verfahrenshandlungen der Disziplinarbehörde ein langer, nicht nachvollziehbarer Zeitraum liegt. Vielmehr muss der Beschwerdeführer auch darauf eingehen, dass die Verfahrensdauer bei einer Gesamtbetrachtung unter Berücksichtigung der Schwierigkeit des Falles, des Verhaltens des Beamten, der Vorgehensweise der Behörden oder der Gerichte sowie der Bedeutung des Verfahrens für den Beamten nicht mehr vertretbar ist (vgl. EGMR, Urteil vom 16. Juli 2009 – 8453/04 – NVwZ 2010, 1015). Davon abgesehen ist in der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts auch geklärt, dass es die unangemessene Dauer des Disziplinarverfahrens nicht rechtfertigt, von der Entfernung aus dem Beamtenverhältnis abzusehen, wenn diese Maßnahme disziplinarrechtlich geboten ist:
Die Grundsätze für die Bestimmung der erforderlichen Disziplinarmaßnahme für ein Dienstvergehen ergeben sich hier aus § 16 Abs. 1 Satz 2 bis 4, Abs. 2 HDG. Für ihre Auslegung kann auf die Rechtsprechung des Senats zu den Bemessungsregelungen des § 13 Abs. 1 Satz 2 bis 4, Abs. 2 BDG zurückgegriffen werden, weil landes- und bundesgesetzliche Regelungen wörtlich übereinstimmen.
Danach hat sich die Maßnahmebemessung an dem Zweck der Disziplinarbefugnis zu orientieren, der darin liegt, die Integrität des Berufsbeamtentums und damit die Funktionsfähigkeit des öffentlichen Dienstes zu gewährleisten. Daher ist Gegenstand der disziplinarrechtlichen Betrachtung und Wertung die Frage, ob ein Beamter nach seiner gesamten Persönlichkeit noch im Beamtenverhältnis tragbar ist und falls dies zu bejahen ist, ob durch eine Disziplinarmaßnahme auf ihn eingewirkt werden muss, um zu verhindern, dass der Beamte das für die Dienstausübung unabdingbare Vertrauen dauerhaft verliert. Allerdings sind bei der Ausübung der Disziplinarbefugnis das Schuldprinzip und das Gebot der Verhältnismäßigkeit zu beachten. Daraus folgt, dass die Disziplinarmaßnahme nach einer Gesamtwürdigung aller im Einzelfall bedeutsamen be- und entlastenden Umstände unter Berücksichtigung des Persönlichkeitsbildes des Beamten zu bestimmen ist, wobei der Schwere des Dienstvergehens richtungweisende Bedeutung zukommt. Die Entfernung des Beamten aus dem Beamtenverhältnis ist geboten, wenn der Beamte das Vertrauen des Dienstherrn oder der Allgemeinheit endgültig verloren hat. Dies ist der Fall, wenn die Gesamtwürdigung unter Berücksichtigung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit ergibt, der Beamte werde auch künftig in erheblicher Weise gegen Dienstpflichten verstoßen oder die durch sein Fehlverhalten herbeigeführte Schädigung des Ansehens des Berufsbeamtentums sei bei Fortführung des Beamtenverhältnisses irreparabel (stRspr; vgl. nur Urteil vom 3. Mai 2007 – BVerwG 2 C 9.06 – Buchholz 235.1 § 13 BDG Nr. 3 Rn. 16 ff.).
Ist der Beamte nach diesen Bewertungsmaßstäben wegen eines schwerwiegenden Dienstvergehens im öffentlichen Dienst untragbar geworden, so kann er nicht deshalb Beamter bleiben, weil das Disziplinarverfahren unangemessen lange gedauert hat. In diesem Fall lässt sich die Anerkennung eines Milderungsgrundes der überlangen Verfahrensdauer nicht mit dem Zweck der Disziplinarbefugnis vereinbaren. Die Funktionsfähigkeit des öffentlichen Dienstes wäre nicht mehr gewährleistet, wenn Beamte, deren berufliche Integrität dauerhaft beschädigt ist, weiterhin Dienst leisten würden. Ergibt die Gesamtwürdigung dagegen, dass eine pflichtenmahnende Disziplinarmaßnahme notwendig, aber auch ausreichend ist, steht fest, dass der Beamte im öffentlichen Dienst noch tragbar ist. Nur unter dieser Voraussetzung kann eine unangemessen lange Verfahrensdauer bei der Bestimmung der Disziplinarmaßnahme unter dem Gesichtspunkt der Verhältnismäßigkeit mildernd berücksichtigt werden (zum Ganzen: BVerfG, Beschluss vom 4. Oktober 1977 – 2 BvR 80/77 – BVerfGE 46, 17und Kammerbeschluss vom 9. August 2006 – 2 BvR 1003/05 – DVBl 2006, 1372; BVerwG, Urteile vom 22. Februar 2005 – BVerwG 1 D 30.03 – juris Rn. 80, vom 8. Juni 2005 – BVerwG 1 D 3.04 – juris Rn. 27 und vom 7. Februar 2008 – BVerwG 1 D 4.07 – ; Beschlüsse vom 13. Oktober 2005 a.a.O. Rn. 8, vom 28. Oktober 2008 – BVerwG 2 B 53.08 – juris Rn. 6 und vom 26. August 2009 – BVerwG 2 B 66.09 – juris Rn. 11).
Daran ist auch unter Berücksichtigung des Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EMRK festzuhalten. Diese Vorschrift gewährleistet und konkretisiert das Recht jeder Person auf ein faires Verfahren über Streitigkeiten in Bezug auf ihre zivilrechtlichen Ansprüche und Verpflichtungen oder über eine gegen sie erhobene strafrechtliche Anklage. Sie benennt als Bestandteil des Fairnessgebots ausdrücklich das Recht, dass über eine derartige Streitigkeit innerhalb angemessener Frist verhandelt wird. Daraus folgt ein Anspruch auf gerichtliche Entscheidung innerhalb angemessener Zeit.
Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) hat den Anwendungsbereich des Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EMRK nunmehr auch auf Disziplinarverfahren erstreckt. Danach liegt ein Verstoß gegen Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EMRK vor, wenn das Disziplinarverfahren von seiner Einleitung durch den Dienstherrn bis zum rechtskräftigen Abschluss unangemessen lang gedauert hat. Die Angemessenheit ist aufgrund einer Gesamtbetrachtung unter Berücksichtigung der Schwierigkeit des Falles, des Verhaltens des Beamten, der Vorgehensweise der Behörden und Gerichte sowie der Bedeutung des Verfahrens für den Beamten zu beantworten (EGMR, Urteil vom 16. Juli 2009 a.a.O.).
Eine unangemessen lange Verfahrensdauer im Sinne von Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EMRK hat jedoch nicht zur Folge, dass dem Betroffenen aus diesem Grund eine Rechtsstellung eingeräumt werden muss, die im Widerspruch zu dem entscheidungserheblichen innerstaatlichen materiellen Recht steht. Vielmehr kann die unangemessene Verfahrensdauer für den Ausgang des zu lange dauernden Rechtsstreits nur dann zugunsten des Betroffenen berücksichtigt werden, wenn das innerstaatliche Recht dies vorsieht oder zulässt. Ob diese Möglichkeit besteht, ist durch die Auslegung der einschlägigen materiellrechtlichen Bestimmungen zu ermitteln.
Dies wird durch die Europäische Menschenrechtskonvention und die dazu ergangene Rechtsprechung des EGMR bestätigt. Stellt der EGMR eine Verletzung des Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EMRK fest, billigt er dem Betroffenen eine billige Entschädigung zu, wenn vollständige Wiedergutmachung nach innerstaatlichem Recht nicht möglich ist (Art. 41 EMRK).
Im Übrigen hat der Bundesgesetzgeber die Rechtsfolgen eines Verstoßes gegen Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EMRK wegen unangemessen langer Verfahrensdauer inzwischen in §§ 198 ff. GVG eigenständig geregelt. Diese Bestimmungen gelten nach § 173 Satz 2 VwGO auch für verwaltungsgerichtliche Verfahren (Art. 1 und Art. 8 des Gesetzes über den Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren und strafrechtlichen Ermittlungsverfahren vom 24. November 2011 ). In Fällen der gerügten unangemessen langen Verfahrensdauer besteht ein Anspruch auf angemessene Entschädigung, um die verzögerungsbedingten Vermögensnachteile und immateriellen Folgen auszugleichen (§ 198 Abs. 1 und 2 GVG). Der Bundesgesetzgeber hat aber davon abgesehen, einen inhaltlichen Bezug zwischen der unangemessenen Dauer des Verfahrens und den geltend gemachten materiellrechtlichen Positionen herzustellen. Dies belegt, dass der unangemessen langen Dauer des Verfahrens Bedeutung für dessen Ausgang nur zukommen kann, wenn die Berücksichtigung dieses Gesichtspunkts dem einschlägigen materiellen Recht nicht widerspricht.
Der Beschluss des Gerichts ist in mehrere Richtungen wegweisend:
1. So unterstreicht das Bundesverwaltungsgericht indirekt, dass bereits auf der Ebene der Sachverhaltsermittlung (des Tatbestandes), der Schuld und auch der Persönlichkeit des Beamten dargestellt werden muss, ob tatsächlich die Entfernung aus dem Dienst geboten ist. Ergibt hier die Bewertung nur die schwerste Disziplinarsanktion, kann die Dauer des Verfahrens nicht mehr zugunsten des Beamten Berücksichtigung finden. Bestehen allerdings noch Zweifel, ob die Entfernung aus dem Dienst zwingend erforderlich ist, kann die überlange Verfahrensdauer auch weiterhin zugunsten des Beamten in die Betrachtung einbezogen werden.
2. Eine Verwirkung der Disziplinargewalt schließt das Bundesverwaltungsgericht ausdrücklich aus.
3. Auffällig ist, dass auch der Verzicht auf die Ausübung der Disziplinargewalt in diesem Zusammenhang Erwähnung findet. Dass dieser ebenfalls ausgeschlossen sein soll, kann nicht überzeugen. Denn gem. § 61 LDG NRW und § 61 BDG hat der Landes- und Bundesgesetzgeber bereits zu erkennen gegeben, dass die Rücknahme einer Disziplinarklage möglich ist und auch Bestand haben soll, selbst wenn der Dienstherr später eine Sanktion für notwendig erachtet. Ausdrücklich „können die [der Disziplinarklage ursprünglich] zu Grunde liegenden Handlungen nicht mehr Gegenstand eines Disziplinarverfahrens sein.“ Das Gericht hat somit weder im ersten, noch in einem gedachten zweiten Verfahren die Möglichkeit, den Beamten zu sanktionieren, wenn der Dienstherr auf sein Recht durch Klagerücknahme verzichtet hat. Nichts anderes muss auch für den sonstigen Verzicht auf die Ausübung der Disziplinargewalt gelten. Das Disziplinarrecht ist kein Selbstzweck, sondern setzt immer das Ermessen des Dienstherrn voraus. Ein Verzicht muss daher möglich und aus Gründen der Rechtssicherheit, sowie der Treue- und Fürsorgepflicht zwischen Beamtem und Dienstherrn auch verbindlich sein.
4. Schließlich weist das Bundesverwaltungsgericht den Weg auf, nach dem Grundsatz „dulde und liquidiere“ Schadensersatz bei überlanger Verfahrensdauer zu fordern. Hierfür ist aber bereits im Ausgangsverfahren die sogenannte „Verzögerungsrüge“ zu erheben. Darüber hinaus besteht noch keine gefestigte Rechtsprechung, welche Entschädigung angemessen für ein Disziplinarverfahren ist. Das Gesetz selbst regelt in § 198 Abs. 2 S. 3 und 4 GVG:
„Die Entschädigung gemäß Satz 2 beträgt 1 200 Euro für jedes Jahr der Verzögerung. Ist der Betrag gemäß Satz 3 nach den Umständen des Einzelfalles unbillig, kann das Gericht einen höheren oder niedrigeren Betrag festsetzen.“
Es bleibt abzuwarten, in welchen Fällen das jeweilige Entschädigungsgericht eine Unbilligkeit annimmt und einen höheren Betrag für die Verzögerung eines Disziplinarverfahrens ansetzt.